Johannes (Jan) Vermeer van Delft war ein Maler des 17. Jahrhunderts. Er wird dem niederländischen Barock zugerechnet. Es gibt heute noch 35 Bilder von ihm. Insgesamt soll er ca. 45 gemalt haben. Er hat meistens direkt im Auftrag gearbeitet, so dass seine Arbeiten kaum auf Auktionen auftauchten. Bis zum zu Beginn des französisch-niederländischen Krieges 1672 konnte er gut davon leben, wegen des Krieges zogen sich die Auftraggeber zurück und er verarmte.
Trotz der kleinen Anzahl der Arbeiten ist er einer der berühmtesten Maler. Seine Bilder haben oft eine oder mehrere Personen in Innenräumen zum Gegenstand, oft auch angereichert mit dem für die Zeit typischen Symbolgehalt.

Eine Dame in einer Seidenjacke mit Hermelin-Abschlüssen zum Beispiel, mit kostbar aussehenden Ohrringen und mit einer Perlenkette, die sie am Hals ausrichtet, so dass sie auf dem Bild gut erkennbar ist. Sie scheint vor einem Spiegel zu stehen. Dieses Bild wird allgemein als Darstellung des Konfliktes zwischen Laster und Tugend gesehen. Der Schmuck und die prachtvolle Kleidung stehen dafür, ebenso wie der vielleicht selbstverliebte Blick in den Spiegel, seinerseits ein Symbol für Hochmut.
Ich sehe bei der Frau eine große Ähnlichkeit mit der Briefschreiberin, auf die gleiche Weise gekleidet, die Kette liegt auf dem Tisch, die Haare sind schmuckvoll gebunden. Da Vorder- und Hintergrund im Dunkeln liegen und das Licht die Mitte mit der Schreiberin und dem Tisch beleuchtet wird einerseits die Tiefenwirkung verstärkt, andererseits das eigentliche Sujet hervorgehoben. Die junge Frau, angeblich Vermeers Gattin, schreibt gerade nicht, sondern blickt mit geneigtem Kopf lächelnd den Maler und damit den Betrachter an.
Diese Hinwendung zum Betrachter sehe ich auch bei dem berühmten Bild von dem Mädchen mit dem Perlenohrring. Ebenso eine gewisse Ähnlichkeit mit Leonardos Mona Lisa. Tatsächlich wird sie auch „Mona Lisa des Nordens“ genannt.

Beide sind im Halbprofil dargestellt, mit Blick auf den Betrachter. Das seltsame Lächeln der Mona Lisa kommt zustande, indem die rechte Seite des Mundes lächelt, die linke aber nicht. Trotzdem kann man das Lächeln als zaghaften Flirt interpretieren. Aufgrund der beiden Mundformen wirkt der Ausdruck zugleich verführerisch und zurückweisend. Bei dem Vermeer-Bild ist der Mund mit glänzenden Lippen leicht geöffnet, was ebenfalls als Signal einer Zuwendung an einen männlichen Betrachter gedeutet wird. Der Kopf könnte sich in diesem Moment zu- aber auch abwenden und zeigt so eine ähnliche Ambivalenz wie der Mund der Mona Lisa. Der dunkle Hintergrund ist eine Ausnahme für Vermeer. Das Bild wird als „Tronie“ bezeichnet, eine Bildgattung, bei der es nicht um konkrete Personen und Hintergründe geht, sondern um ein beispielhafte Charakterstudie, hier ein junges Mädchen in exotischer Kleidung. Die Platzierung der Figur zur rechten Seite hin verleiht dem Bild eine leichte Spannung, die einer Bewegung nach vorne Raum gibt.
Die Bilder Vermeers zeigen sonst in der Hauptsache ein beschauliches Ambiente, mit einer oder wenigen Personen, in Szenen, auf denen mit den Worten des KHM aus Wien „eigentlich nichts passiert“. In Wien befindet sich ein Werk, auf das diese Beschreibung ebenfalls zutrifft, obwohl es als eines seiner herausragenden Arbeiten gilt, „Die Malkunst“ (einer von mehreren Titeln für das Werk). Vermeer hat exakt perspektivisch gearbeitet, im Fluchtpunkt unter dem Knauf der Landkarte entdeckte man ein kleines Loch, in dem wohl eine Nadel mit einem Faden steckte, um die Fluchtlinien exakt zu platzieren. Vermeer war übrigens Autodidakt. Die Farbigkeit bewegt sich im für ihn typischen harmonischen Rahmen, hier, wie auch sonst mehrmals, mit dem Kontrast zwischen Beige und Hellblau, der wie alle Komplementärkontraste zugleich Spannung und Harmonie erzeugt. Die für die Zeit übliche Verwendung von Symbolen tritt hier etwas häufiger auf, als bei anderen Bildern. So wird die Frau als Clio, die Göttin der Geschichte gezeigt, deren Attribute Buch und Trompete daran keinen Zweifel lassen. Der Maler, in eleganter Kleidung, stellt die Malkunst selber dar. Die Landkarte zeigt einen früheren Zustand der niederländischen Grenzen, so dass auch hieraus ein Verweis auf Geschichte geschlossen werden darf.

Der Vorhang links ist eine deutliche Anspielung auf eine Anekdote über den Wettstreit zwischen den Malern Zeuxis, der Trauben so genau darstellte, dass Vögel daran pikten und Parrhasios. Dieser malte einen Vorhang so naturgetreu, dass Zeuxis ihn zu Seite schieben wollte, um das dahinter liegende Bild besser sehen zu können.

Die „Ansicht von Delft“ ist ein nicht minder herausragendes Meisterwerk, eins von nur zwei Bildern, die keine Innenräume zeigen. Das Mauritshuis hat während der Pandemie einen coronakonformen Zugang zu dem Bild eingerichtet, bei dem diese Arbeit als einzige in einem Saal hängt und den Betrachtern eine Zeit von 10 Minuten eingeräumt wird, während der sie das Bild alleine betrachten können. Das drückt hinreichend die Wertschätzung dieses Bildes aus. Zu sehen ist eine Stadtansicht von Delft. Dunkle Wolken im Vordergrund über dem Ufer eines Wasserlaufs, während die Stadt weiter hinten in hellem Sonnenlicht erstrahlt, eine Aufteilung von Hell und Dunkel wie bei der Briefschreiberin. Die Anordnung erfolgt parallel zu den Bildrändern, auf die sonst üblichen, in die Tiefe führenden Straßen solcher Darstellungen hat Vermeer verzichtet, was dem Bild eine ruhige Ausstrahlung verleiht.
Ein anderer Künstler, dessen Beteiligung an der Rezeption des Werkes erwähnenswert ist, ist der Schriftsteller Marcel Proust, der Verfasser des Monumentalwerks „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Proust besuchte, bereits körperlich angeschlagen 1921 eine Vermeer-Ausstellung in Paris. Auf der Treppe erlitt er einen Schwächeanfall. Er verarbeitete diesen Vorfall, indem er nachträglich eine Episode in sein Werk einfügte, in der die Romanfigur Bergotte, ein Schriftsteller, angesichts eines Bildes von Vermeer sagt:
„…ich hätte mehr Farbe daran verwenden sollen, meine Sprache in sich selbst so kostbar machen sollen, wie diese kleine gelbe Mauerecke es ist.“
Einen Moment danach erleidet Bergotte einen Schwächeanfall, in dessen Verlauf er später stirbt. Eine Quintessenz künstlerischer Arbeit also, diese kleine gelbe Mauerecke, am Ende eines Lebens, sowohl für Bergotte, als auch für Proust. Er starb 1922.
Bei dem entsprechenden Bild konnte es sich nur um die „Ansicht von Delft“ handeln, bei dem man dann die gelobte kleine gelbe Mauerecke suchte. Vergeblich allerdings, denn sie existiert nicht.
Dieter E. Zimmer von der „Zeit“ löste den Widerspruch in der Weihnachtsausgabe der Zeitung auf bravouröse Weise:
„Ich denke gern, er [Proust] habe es erfunden. Ich stelle mir vor, wie er überlegte, welches Detail es in dem Bild gut geben könnte, aber nicht gibt, wie er an das Bild herantrat, um sich zu überzeugen, dass es tatsächlich keinerlei kleines gelbes Mauerstück mit einem Vordach enthält – und wie er nun wusste, was er zu tun hatte.“
„Man sieht es höchstens im eigenen Innern. Draußen lassen sich solche perfekten Stellen nur suchen, nicht finden.“ (Beide Zitate: Dieter E. Zimmer, SZ, 24.12.1996)
Proust huldigt der Perfektion des Bildes, indem er dem Bild ein ebenso perfektes Detail andichtet, das als uneinholbares Symbol für Vollkommenheit dient, ohne dass dem Bild jemals ein solches Element fehlte.