Vermeer zum 388. Geburtstag
Als relativ junges Kind hatte ich bereits die gesamte Belletristik-Abteilung der heimischen Pfarrbücherei ausgelesen. Es gab nur ein Buch, an dem ich scheiterte und das ich zurückgab, ohne es zu Ende geschafft zu haben: der erste Band von Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“.
Mit meiner an Langeweile grenzenden Gründlichkeit habe ich das in späteren Jahren nachgeholt, begeistert übrigens. Bei Barthes las ich dann, dass es nach seiner Meinung nicht allzu viele Menschen gab, die Proust von vorne bis hinten gelesen hätten, die meisten würden sich immer nur einzelne Stellen vornehmen. Ja, lieber Roland, da kennst du mich aber nicht, mit Deinen Büchern habe ich es übrigens genauso gemacht! Und Denken und Sehen gelernt dabei!

„…ich hätte mehr Farbe daran verwenden sollen, meine Sprache in sich selbst so kostbar machen sollen, wie diese kleine gelbe Mauerecke es ist.“
…heißt die Stelle bei Proust, die sich auf Vermeers Ansicht von Delft bezieht. Den Tod des Schriftstellers Bergotte, dessen letzte Worte dies sind, hat Proust, selber bereits schwer krank, als er die Vermeer-Ausstellung 1921 im Jeu de Paume besuchte, nach seiner neuen Begegnung mit dem Bild in sein Werk eingefügt. Eine Quintessenz künstlerischer Arbeit also, diese gelbe Mauerecke, am Ende eines Lebens!
Auch wenn es diese Mauerecke auf dem Bild gar nicht gibt.
René Huyghe, damals Konservator am Louvre schrieb 1936: «Für Vermeer und Proust gibt es nur eine Kunst: jene, die die Wirklichkeit durchmustert und festhält, aber indem beide ihr die Farbe ihrer Seele geben.»
Das Allgemeine am Beispiel des Einzelnen gezeigt, dessen Erkenntnisse wir dann nachlesen können, Das Vollkommene aber erfunden, denn in der Wirklichkeit verliert es seine Vollkommenheit.
„Ich denke gern, er habe es erfunden. Ich stelle mir vor, wie er überlegte, welches Detail es in dem Bild gut geben könnte, aber nicht gibt, wie er an das Bild herantrat, um sich zu überzeugen, daß es tatsächlich keinerlei kleines gelbes Mauerstück mit eine Vordach enthält – und wie er nun wußte, was er zu tun hatte.“
„Man sieht es höchstens im eigenen Innern. Draußen lassen sich solche perfekten Stellen nur suchen, nicht finden.“ (Beide Zitate: Dieter E. Zimmer, SZ, 24.12.1996)