Tinguely

Spiel –

Jean Tinguely (1925 – 1991) war Mitglied der « Nouveux Réalistes », auf Deutsch der »Neuen Realisten«. Kunst bezieht sich auf Relität. Im Naturalismus wurde sie abgemalt, im Realismus kritisch hinterfragt, im Impressionismus wurde versucht, das Licht auf den Dingen einzufangen, im Surrealismus entdeckte man die Realität von Träumen, usw. Entwicklungen innerhalb der Kunst von Stil zu Stil ergaben sich aus der Stellungnahme der Künstler gegenüber Vorangegangenem, aber auch aufgrund der Veränderungen in der gesellschaftlichen Realität.

Dann gab es diese Künstlergruppe, die behauptete, eine neue Realität zu liefern. Es wird sofort interessant, wenn man sich die Gruppenmitglieder anschaut. Unter diesem Namen ins Leben gerufen hatte sie der Kunstkritiker Pierre Restany 1960. Mitglieder waren  Yves Klein, Arman, François Dufrêne, Raymond Hains, Martial Raysse, Daniel Spoerri, Jean Tinguely, Jacques Villeglé. Später kamen noch César, Mimmo Rotella und Niki de Saint Phalle hinzu, Christo beteiligte sich an den Ausstellungen. Ins Auge sticht, dass die Arbeiten der genannten Künstler so gut wie keine Übereinstimmungen aufwiesen.

Der Bezug dieser Gruppe zur Realität bestand darin, dass sie zusätzlich zu der vorhandenen noch weitere schufen, sie ergänzten, jeder auf seine Weise, die „reale“ Realität um weitere Elemente. Marcel Duchamp kann als Vorläufer für dieses Realitätsverständnis gesehen werden. Das Signieren von Alltagsgegenstände schuf eine neue Realität der Gegenstände als Kunstwerke. Ben Vautier, kurz Ben, machte dies ebenso. Er zählt nicht zum Kreis, dieser Künstler, bewegte sich aber ich ihrem Umfeld.

Yves Klein hatte ich hier bereits im September 2020 mit dem Blogbeitrag »Fahrt ins Blaue« vorgestellt. Nun also Jean Tinguely. Vermutlich ist er vielen mit seinen Werken vor Augen, kleine oder große, meist bewegliche Installationen aus Metall und vielen anderen Materialien, kinetische Maschinen. Bewegliche, oft kleinere, aber auch sehr große Konstruktionen, die automatisch einen Zweck zu verfolgen scheinen, den man jedoch vergeblich sucht.

Jean Tinguely, Narva, Metropolitan Museum of Art, New York. Bild: Mark B. Schlemmer, flickr. (CC BY 2.0)

Tinguely war ein Schweizer Künstler, der mit 16 Jahren eine Lehre als Dekorateur begann und dort 2 Jahre später fristlos entlassen wurde. Er hatte wohl zu eigensinnige Vorstellungen. Seine Lehre absolvierte er dann trotzdem. Bei seiner späteren Arbeit fielen bereits seine aus Draht gefertigten Dekorationen auf. Daniel Spoerri unterstütze ihn und seine damalige Frau Eva Aeppli zu der Zeit. Hier begannen die kreativen Kontakte. Tinguely widmete sich immer stärker kinetischen Arbeiten, deren Bewegungen oft vom Zufall abhingen. Er kreierte alle möglichen Arten von Maschinen, am Anfang u.a. automatische Zeichenmaschinen, mit denen die Besucher „eigene“ Zeichnungen anfertigen konnten. Der Künstler stellt das Werk nicht her, sondern baut eine Maschine, die vom Betrachter bedient, die Zeichnung anfertigt. Er nennt diese Maschinen « Méta-Magics ». Die Vorsilbe »Méta« verwendet er öfter. Sie soll signalisieren, dass etwas auf einer höheren Ebene stattfindet. Letztlich könnten Maschinen über sich selber nachdenken, in diesem Fall jedoch sind sie eine Auseinandersetzung mit der Entstehung von Kunstwerken und der Beteiligung von Künstlern daran. Es gibt ein schönes Video aus dem Tinguely-Museum dazu.

Vorgestellt werden dort seine automatischen Zeichenmaschinen, wie man eine hier statisch sieht.

Jean Tinguely, Cyclograveur (Méta-Magic), 1961, Kunsthaus Zürich, Schweiz. Bild: Neural, flickr. (CC BY-NC-ND 2.0)

Tinguely knüpfte schnell Kontakte, z.B. arbeitete er mit Yves Klein zusammen, traf auf Niki de Saint Phalle und ihren damaligen Mann, lernte Galeristen und Ausstellungsmacher kennen, die seinen Bekanntheitsgrad erhöhten. Der Werbefotograf Charles Wilp dokumentierte den Abwurf von 150 000 Flugblättern mit seinem Manifest »Für Statik«. Er machte Abstecher in die Performance und zeigte u.a. Maschinen, die sich selbst zerstörten, z.B. die »Hommage to New York«, am 17. 3. 1960. Zu der Zeit begann er, die kleinen und großen Maschinen herzustellen, die man als erstes mit ihm verbindet.

1960 war er Gründungsmitglied der « Nouveaux Réalistes », trennte sich von Eva Aeppli, die ihm und seiner zweiten Frau, Niki de Saint Phalle, freundschaftlich verbunden blieb.

Jean Tinguely, Safari de la Mort Moscovite, 1989, Museum Tinguely, Basel. Bild: Emanuel Fromm, flickr. (CC BY-NC-ND 2.0)

Tinguely begann irgendwann, Tierschädel in seine Installationen einzubauen. In seinem großen Spätwerk, dem »Mengele-Totentanz« scheint die Auseinandersetzung mit Vergänglichkeit zu kulminieren. Er verwendete zahlreiche Gegenstände aus dem nach einem Blitzeinschlag niedergebrannten Haus seiner Nachbarn. Der Schweizer Galerist Ernst Beyeler stellte die 13 Maschinen, die das Ensemble bildeten, zuerst aus. Heute befinden sie sich im Tinguely Museum in Basel.

Jean Tinguely, Danse Macabre (Mengele-Totentanz), 1996, Tinguely Museum, Basel. Bild: Jean-Pierre Dalbéra, flckr. (CC BY 2.0)

Die Maschinen von Tinguely sind große Spielzeuge, die trotz ihrer Zugehörigkeit zur modernen Kunst von fast jedem akzeptiert und gemocht werden. Barbara Til scheibt anlässlich einer Ausstellung in Düsseldorf 2016 Er lockt nicht nur den Betrachter sich spielerisch zu beteiligen, sondern lässt auch seinen Maschinen die Freiheit zum Spiel.“

Für ihn haben diese Spiele einen ernsten Hintergrund, die Vorsilbe „Meta“ weist auf das Nachdenken über etwas auf einer höheren Ebene hin. Auch wenn Tinguely die klassischen Formen solcher Überlegungen durch ganz neue, wortlose, ersetzt, sind sie doch Auseinandersetzungen mit dem Leben, vielleicht einem anderen Leben, das sich manch einer wünscht und dem man im Spiel begegnen kann, sowie mit dem Tod. Letzterer steht eindeutig im Mittelpunkt des Mengele-Totentanzes und seiner übergroßen Skulptur „Zyklop“, einem über 22 Meter hohen Kopf. Er hat die Skulptur in Gemeinschaft mit mehr als zehn Künstlern geschaffen. Sie erbauten ihn auf Einladung Jean Tinguelys in einem Wald bei Paris. Die Arbeit dauerte über zwanzig Jahre, in denen ein überdimensionaler Kopf als begehbare Skulptur entstanden ist.

Jean Tinguely, «Le Cyclop», 1969 – 1994, Milly-la-Forêt bei Paris. Bild: Jean Pierre Dalbéra, flickr. (CC BY 2.0)

Dieses Video des Tinguely-Museums in Basel dokumentiert zwar die Restauration des Werkes, vermittelt aber einen besseren Eindruck, als nur ein Bild.
https://www.arte.tv/de/videos/084507-000-A/jean-tinguelys-zyklop/

Ich möchte, auch aus persönlicher Wertschätzung, zwei Werke, bzw. Werkgruppen hervorheben, die Tinguelys Arbeit in einen erweiterten Rahmen stellen. 1991 fuhr ein Zug mit „Kulturgüterwagen“ durch Europa. Klaus Littmann hatte Künstlern Güterwagen zur Verfügung gestellt, die sie nach eigenen Ideen gestalten konnten. Beteiligt waren u.a. Daniel Spoerri, Eva Aeppli, Bernhard Lugimbühl, Ben und auch Tinguely. Es gibt leider so gut wie keine Bilder mehr davon, die Waggons wurden nachher wohl versteigert. Die Platzierung im Bahnhof Deutz-Tief mag an dem geringen Verkehrsaufkommen dieses Bereiches liegen, der geschichtliche Hintergrund jedoch kann nicht zufällig sein. Von diesem Teil des Bahnhofes wurden ab 1941 fast sämtliche Juden Kölns nach Theresienstadt deportiert. Gut in Erinnerung geblieben ist mir der Waggon von Tinguely, der mit einer Reihe von kleinen Automaten bestückt war, die durch Einwurf eines Geldstückes, damals noch 1 DM, in Bewegung gerieten und teilweise Töne erzeugten. Der Mechanismus wurde durch das Durchrutschen der Münze ausgelöst, die danach nicht in einen Sammelkasten fiel, sondern auf das Gleisbett unter dem Waggon. Kunst ist nicht umsonst, aber mit Geld nicht zu bezahlen. Mein damals 10jähriger Sohn und sein Freund, die mich nach Köln-Deutz begleitet hatten, entdeckten den Zusammenhang und verbesserten so ihr Taschengeld beträchtlich.
http://www.klauslittmann.com/projekte/kulturgueterwagen-1991

Der zweite Arbeitskomplex, bei dem die Kunst ihre eigenen Grenzen überschreitet, sind seine Brunnen. An sich schon Inseln der Abkehr vom Alltag, kleine Oasen der Entspannung, zur Freude der Besucher und besonders der Kinder, die vielleicht mit dem Wasser spielen dürfen, setzt Tinguely seine wasserspeienden Kunstwerke hinein und macht sie so zu einem wahren Ort der Begegnung von Kunst und dem Leben der Menschen.

Jean -Tinguely, Fasnachtsbrunnen in Basel, 1975-1977. Bild: Bild: Esther Westerveld, flickr. (CC BY 2.0)
Jean Tinguely, D’Fontääne – die Fontäne, eine der 10 Skulpturen des Brunnens. Bild: Rufus46, Wikipedia. (CC BY-SA 3.0)

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