1. Jules und Jim

The New York Times: „Critics’ Picks Video: ‘Jules and Jim’ „By Mekado Murphy, February 16, 2010.
A. O. Scott looks at François Truffaut’s meditation on love, friendship and sexualtiy.
By Gabe Johnson on Publish Date February 15, 2010.
Hier im Ort gab es vor 20 Jahren eine Brücke über Bahngleise hinter einer Großraumdiskothek, von der meine damalige Geliebte sagte, es sei so eine wie bei Jules und Jim und die dabei genauso unbeschwert lachte, wie Jeanne Moreau zu Beginn des Films. Ein Grund, warum die Erinnerung daran länger andauerte, als das damalige Glück!
Der Film also:
Das Wunderbare an solchen Filmen mit drei Beteiligten ist, dass die Komplexität der Gefühle auf mehrere Personen verteilt wird. Was eine Zweierbeziehung zum Zerbrechen bringen würde, wird auf die Fundamente von mehreren Personen aufgeteilt, so dass das komplizierte Geflecht zumindest länger hält. Dabei ist der Betrug an dem einen Menschen mit der Ehrlichkeit und der Treue gegenüber dem anderen verbunden, so dass immer etwas Positives zurück bleibt, vielleicht sogar Unschuldiges.
Diese Konstellation ermöglicht es, Extreme darzustellen, die eine Zweierbeziehung sofort zerstören würden. Archaisch und anarchistisch.
Es ist kein Ideal, ich bin weit davon entfernt, es so darstellen zu wollen, nichts, das anzustreben wäre. Die moralische Entrüstung ist dabei jedoch nebensächlich, ebenso, wie das das tragische Ende. Es ist eine Konstruktion, ein künstliches Arrangement, das die Komplexität von Gefühlen auseinander nimmt und alle Widersprüche ordentlich nebeneinander ausbreitet.
So kann man beim Zusehen die Tiefe von Gefühlen nachvollziehen, die man sich im (wahren) Leben nie trauen würde, auszuleben – und zu Recht, denn eine Tragödie am Ende wäre mehr als wahrscheinlich.
So bleibt die Liebe im Leben immer ein Kompromiss, irgendwann ein wenig blass werdend, aber realistisch und lebbar, während das Ideal in gemalten oder bewegten Bildern gezeigt wird, wie in griechischen Dramen, als läuternde Wahrheit, die man im wirklichen Leben bedenkt, aber nie erreicht. Vielleicht ist es irgendwann einmal auch nur eine von vierhundert Dummheiten, an die man sich gerne erinnert.
Vorbild für die Verfilmung der Utopie einer wahren Liebe zu dritt war der autobiografische Roman von Henri-Pierre Roch.
2. Antoine

Die Antoine-Doinel-Reihe interessierte mich unter anderem aufgrund des französischen Titels von „Sie küssten und sie schlugen ihn“, „Les quatre-cents coups“, die vierhundert Schläge. Der Ausdruck ging auf die Belagerung der Stadt Montauban zurück, die nach vierhundert Kanonenschüsse erfolglos abgebrochen wurde. Der Volksmund meint damit, dass man nach vierhundert Rückschlägen oder Dummheiten möglicherweise genug gelernt hat, um zur Vernunft gekommen zu sein und aussichtslose Unterfangen abzubrechen. Vielleicht ein wenig romantisch, aber man soll die Hoffnung ja nie aufgeben.
Man ist ja nicht völlig unfähig, fühlt sich nur manchmal so. Die Fehlschläge der Vergangenheiten lasten auf einem und lassen an künftigem Gelingen zweifeln. Aber ist es nicht irgendwann mal genug? Nach 400 Schlägen vielleicht, 400 Schläge die nichts ausrichten und dann ist Ruhe?
Würde Truffaut sein Alter Ego Antoine Doinel als reinen Verlierer sehen? Kaum, aber auch nicht als triumphierenden Sieger. Eine Persönlichkeit, sensibel und unsicher, mehrdimensional, fragil, scheinbar ohne geradlinige Biographie. Ein Blogger schreibt:
„Wer ist Antoine Doinel?
Ich habe keine Antwort, ich möchte keine Antwort. Ich liebe die so eigenartige Person, so entfernt von den amerikanischen Karikaturen, so nah an unserer Zerbrechlichkeit. Ich möchte sie fließen lassen und weiter versuchen, sie zu greifen. Damit sie mir auf’s Neue entgleitet. Es ist eine Person, die ständig auf der Flucht ist.
Die Frage bleibt also, wer ist Antoine Doinel? Truffaut? Léaud ? Eine Inkarnation von jugendlicher Unentschlossenheit, das Echo einer verlorenen Kindheit?
Statt einer Erklärung schlage ich den Blick von Avedon auf diese ewige Frage: Wer ist Antoine Doinel?“ [1]

Richard Avedon: François Truffaut and Jean-Pierre Leaud, film director and actor, Paris June 20, 1971
https://www.moma.org/collection/works/128634?artist_id=248&locale=de&page=1&sov_referrer=artist
© 2019 The Richard Avedon Foundation
Die Persönlichkeiten überschneiden und überlagern sich, Truffaut, Jean-Pierre Léaud, der Schauspieler, und die Figur Antoine Doinel. Truffaut sagt, es sei dieselbe Persönlichkeit, ziemlich nahe an ihm, ohne Truffaut zu sein, ziemlich nahe an Jean-Pierre Léaud ohne Jean Pierre Léaud zu sein. [2]
Eine Einordnung der Antoine-Doinell-Reihe, beschreibt sie im Vergleich mit Balzac als Truffauts Comédie Humaine. Die Figur entwickelt sich im Verlauf der Reihe über eine Reihe kleinerer Jobs hin zu einem Schriftsteller des Buches „Salades de l’amour“, Liebessalat, von der Banalität zur Kunst. [3] Das Buch entsteht in dem letzten Film, „Liebe auf der Flucht“ von 1978, das Wikipedia als Filmpuzzle beschreibt, das sich immer wieder auf vorangegangene Filme bezieht. [4]
In seinem letzten Interview sagt der 1984 verstorbene Regisseur nach der Bemerkung, dass die Kindheit eine Serie schmerzhafter Erinnerungen sei, dass die Figur das Gegenteil eines außerordentlichen Charakters sei. Im Unterschied zum Durschnittsmenschen aber siedele sie sich niemals in durchschnittlichen Situationen an. Die am meisten entwicklungfähige Figur des Kinos überhaupt. [5]
Ich finde, dass hier, wie in „Jules und Jim“ eine Analyse gezeigt wird, in der sich diesmal die Gefühle und Entwicklungen nicht auf verschiedene Personen aufgeteilt werden, aber auf eine Person in verschiedenen biographischen Stadien.
Ein moderner filmischer Entwicklungsroman also, der das Einschlagen verschiedener Wege, das Scheitern zum außerordentlichen Normalfall erhebt.
Also, es gibt Menschen, denen macht so etwas Hoffnung!

Das Buch, so die Tochter Eva Truffaut gemäß der gleichen Quelle, das natürlich nur in seiner Hülle existiert, sei im Film ein Buch von einem André Miquel, das zum Einstampfen vorgesehen war und das in dem Umschlag steckte. Es stehe bei ihr ordnungsgemäß zwischen Heimito von Doderer und Jean-Paul Dollé.
Die Verweise sind keine Zitate und ebenso keine wortgetreuen Übersetzungen, sondern inhaltsgetreue Wiedergaben der ursprünglichen französischen Texte.
Ich möchte hier keine wissenschaftlichen Kriterien hochhalten, mich aber auch nicht mit fremdem Federn schmücken. Die Verweise sollten sauber sein.
1 .Vgl. „il est cinq heures, clean living under difficult circumstances“: » Le mystère Doinel « https://ilestcinqheures.wordpress.com/2008/11/01/le-mystere-doinel/
2. Richard Brody: Truffaut’s last Interwiew, The New Yorker, 29.7.2010. https://www.newyorker.com/culture/richard-brody/truffauts-last-interview
3. «Tous les garçons s’appellent Doinel », Nathan Reneaud, Slate fr 6.6.2015
http://www.slate.fr/story/101991/doinel
4. https://de.wikipedia.org/wiki/Antoine-Doinel-Zyklus
5. siehe Anmerkung 2.