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Das Floß der Medusa“ ist ein Gemälde von Théodore Géricault und wird der französischen Romantik zugeordnet. Es ist mit 4,91 m x 7,16 m, also ca. 35 m2 von beeindruckender Größe. Géricault wird der französischen Romantik zugeordnet, ebenso wie Eugène Delacroix. Während dieser in dem bekannten Bild „Die Freiheit führt das Volk“…

By Eugène Delacroix – Erich Lessing Culture and Fine Arts Archives via artsy.net, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=27539198
…die Ereignisse der Julirevolution von 1830 verarbeitet, bezieht sich Géricault auf die Folgen der französischen Revolution von 1789. An beiden Beispielen wird allerdings deutlich, dass sich die einzelnen Epochen der Kunstgeschichte auch durch gesellschaftliche Veränderungen weiter entwickeln, dass also nicht nur ein kunstinterner Stilwechsel stattfindet.
Der erfolgt aber auch: so löst die Romantik die vorausgegangene Klassik ab, die wiederum viele Darstellungsformen der Antike aufgriff, während der dann folgende Realismus wieder die Gegenposition zur Romantik vertrat. Die Romantik wandte sich mehr von der möglichst naturgetreuen Darstellung des Sichtbaren ab und versuchte auf Dinge hinzuweisen, die an sich nicht sichtbar sind. Den Helden der Antike und der Klassik setzte sie eher das Mystische als Thema entgegen. In Deutschland standen sogenannte heroische Landschaften im Vordergrund, große, naturnahe Bilder mit sehr kleinen Menschendarstellungen, die deren relative Bedeutungslosigkeit thematisierten.
Die französische Romantik setzte nicht so sehr die Größe der Natur, sondern mehr die der heroischen Geste oder der Menschen, die sie ausführten, ins Bild. Sehr deutlich wird das in dem Bild von Delacroix, aber eben auch in dem Bild von Géricault. Kräftige, für ausgehungerte Menschen zu muskulös, aber auch Verletzte und Tote, mit einer erstaunlichen, für Géricault aber typischen Detailtreue. Eine heroische Haltung, die den Willen zu leben, zum Überleben zum Ausdruck bringt.
Der Hintergrund kann von (mindestens) zwei Ebenen aus interpretiert werden. Die erste ist real, die Fregatte „Medusa“ gab es wirklich und sie ist gesunken. Es gab zu wenig Rettungsboote und fast 150 Menschen versuchten, sich auf einem riesigen Floß zu retten. In den fünfzehn Tagen, die folgten kam es zu grausamen Szenen, bis hin zum Kannibalismus. Am Ende überlebten fünfzehn Menschen. Dieses Ereignis wurde in Frankreich eher verdrängt und Géricault machte sich mit seiner bildnerischen Aufarbeitung keineswegs Freunde.
Die zweite Ebene ist, dass „Medusa“ zugleich der Name einer todbringenden Göttin aus der Antike ist. Perseus besiegte sie mittels eines Tricks, bei dem er einen Spiegel einsetzte, denn der unmittelbare Anblick hätte ihn zu Stein erstarren lassen. Peter Weiss hat in seiner stark politisch geprägten Interpretation des Bildes (in „Die Ästhetik des Widerstandes“), in einer allgemeineren Sichtweise, der ich nun folgen möchte, dargestellt, dass die Götter der Antike abhanden gekommen sind. Ihr Platz bleibt leer, obwohl ihre Funktion allgemein und nicht nur religiös war, etwa bei dem Erklärungsversuch über das Zustandekommen einer Welt, wie man sie in der Antike kannte.
Diese leere Stelle wurde schon in der Romantik von Menschen eingenommen, nicht göttlich, aber im Rahmen ihrer Möglichkeiten durchaus heroisch. Der zunächst plausibel erscheinende Antrieb hierfür aber, die Hoffnung, funktionierte nicht mehr, zu oft wurde sie bereits enttäuscht. Nicht nur die um ihr Überleben kämpfenden Menschen stellt Géricault dar, sondern auch die Verletzten und Toten. In vorbereitenden Studien bläst der Wind im Segel und in das Tuch der Männer rechts aus verschiedenen Richtungen.

By Théodore Géricault – Own work, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=54807628
Das fertige Hauptwerk zeigt diesen Widerspruch nicht mehr, aber es gibt Interpretationen (von Klaus Heinrich zum Beispiel), die hieraus die widrigen Verhältnisse, denen die Handlungen der Menschen ausgeliefert sind, ableiten.
Die Hoffnung also trägt nicht, wird aber laut Peter Weiss ersetzt durch etwas, das die Erfahrung des Scheiterns mit einbezieht, durch Erwartung, eine realistischere Einschätzung der Möglichkeiten. Mathematisch gesehen ist die Erwartung die Hoffnung minus Erfahrung, anders ausgedrückt ein realistisch gewordener Optimismus, bereit, den Kampf ums Überleben aufzunehmen.
Wenn man die Leitbegriffe der französischen Revolution, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit um den Begriff „Demokratie“ erweitert und sich gleichzeitig vor Augen hält, dass heute im Zeitalter der unbegrenzt erscheinenden technischen Möglichkeiten wieder ähnliche Katastrophen an den europäischen Grenzen und im Mittelmeer stattfinden, auch wenn sie durch die Pandemie in den Hintergrund gedrängt werden, ist das Bild von Géricault nicht einfach nur alt, sondern (leider) immer noch aktuell.